Nahe am Wasser gebaut

Ferienzeit am See, Strandspaziergänge entlang des Meeres, glänzende Tautropfen im Sonnenschein – Wasser in unterschiedlichster Form und Schattierung fasziniert. Wessen Blick wird nicht vom kreisbogenförmig farbigen Lichtband eines Regenbogens angezogen? Kinder lieben Pfützen, Jugendliche schätzen Spaß und Nervenkitzel im Aquapark, reifere Semester entspannen und genießen Wasserwellness. Wir alle kennen Wasser in vielfältiger Form. Doch darüber hinaus sind uns auch «Wasserphänomene» ganz anderer Art vertraut. Ein kleines Kind läuft laut schluchzend und tränenüberströmt zur Mutter und zeigt die blutende Schürfwunde als Folge eines Sturzes. Da steht eine Familie am offenen Grab, und es fließen Abschiedstränen, die manchmal hinter dunklen Sonnenbrillen versteckt werden. Im Seelsorgegespräch mit einer jungen Frau, die aufgrund einer belasteten Beziehung nicht mehr ein noch aus weiß, werden unzählige Taschentücher benutzt, weil die Seele ein Ventil braucht. Andererseits werden «Tränen» gelacht. Die Reisegruppe unterm bunten Sonnenschirm verwandelt ein «Café» in eine «Lacharena», weil Witz auf Witz und Pointe auf Pointe folgen. Und wer wollte die emotionalen Tränen anlässlich einer Hochzeit, einer bestandenen Prüfung oder eines Sieges verschweigen? Tränen sind eine weltweit verstandene Ausdrucksform, die weder Wörterbuch noch Dolmetscher braucht. Niemand von uns würde bestreiten, dass Emotionen ein mächtiges Repertoire aktivieren und unsere Tränendrüsen davon unmittelbar angeregt werden.

Weinen ist etwas typisch Menschliches

Auch wenn «Krokodilstränen» sprichwörtlich geworden sind, weinen Tiere nicht. Zumindest nicht aus Schmerz, Trauer oder Betroffenheit. Emotionale Tränen sind eine menschliche Besonderheit. Säugetiere besitzen zwar – wie der Menscheinen Tränenapparat, dessen Funktion jedoch darin besteht, das Austrocknen der Augen zu verhindern oder Fremdkörper, die ins Auge gelangt sind, mit Hilfe der Tränenflüssigkeit auszuspülen. Tiere empfinden sehr wohl Schmerz und Trauer, haben aber eine andere Art, diese Gefühle mitzuteilen. Tränen sind die «Waschanlage für die Seele» und «reinigen das Herz», wie es F. M. Dostojewskij poetisch ausgedrückt hat. Tatsächlich helfen sie uns, schwierige Lebensphasen leichter zu bewältigen. Nicht geweinte Tränen können krank machen und andere ungewollte, schädliche Reaktionen hervorrufen, die weder uns noch anderen guttun, wie zum Beispiel Aggressionen. Trotzdem sind Tränen vielen Menschen ein «Dorn» im Auge. Wenn sich der Tränenfluss in aller Öffentlichkeit Bahn bricht, wird dies als äußerst störend erlebt. Frauen und noch mehr Männer wehren sich entschieden, dass ihre innere Befindlichkeit sichtbar wird. Sie verbinden dies mit Scham und Schwäche.

Tränen können heilen

Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass Männer «ohne Tränen» häufig an Managerkrankheiten leiden. Fragt man einen Mann innerhalb einer Therapie, wann er das letzte Mal geweint hat, führt die Spur zumeist in die Kindheit zurück. Interessant ist überdies, dass Frauen deutlich häufiger, länger und auch schluchzender weinen als Männer. Analysen haben belegt, dass Frauen bis zu 64 Mal im Jahr, Männer dagegen höchstens 17 Mal weinen. Obwohl Tränen eine wertvolle Naturarznei sind, werden sie weitestgehend vermieden oder weggedrückt. Während amerikanische Wissenschaftler die Ansicht vertreten: «Wer häufig weint – egal ob Frau oder Mann – lebt gesünder und länger», tut sich die westlich geprägte Gesellschaft schwer damit, Tränen eine gewisse Heilwirkung zuzugestehen. Tränen können klären, läutern, entkrampfen, lösen und verhärteten sowie erkalteten Herzen einen Heilungsimpuls geben.

Warum tun wir uns mit dem Weinen so schwer?

Es ist eine Realität, dass wir uns mit dem «Weinen» schwertun. Tränen gehören nicht in unser Lebenskonzept. Wir wischen sie weg. Wir schämen uns für sie. Wir haben gelernt, sie zu verstecken oder niederzukämpfen. Sie sind uns peinlich. Unterliegen wir etwa dem Irrtum, Tränen mit Schwäche, Hysterie oder Unmännlichkeit zu verbinden? Wer in der Angst lebt, als Heulsuse abgestempelt zu werden, wird seine Gefühle kontrollieren oder gar schamvoll verstecken. Damit vermeiden wir Spott – allerdings auch Trost, Zuwendung und Unterstützung. Tränen «erzählen» Lebensgefühle und fördern dadurch Echtheit im Miteinander. Wer Tränen unterdrückt, verschweigt Wünsche und Enttäuschungen, verheimlicht seine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, sagt nichts von seiner Wut über Unrecht und Gewalt. In unseren Tränen steckt ein wesentlicher Teil unseres Lebens, viel von unserem Wesen. Vielleicht sogar der verletzlichste und gleichzeitig sehnsüchtigste Aspekt unserer Persönlichkeit. Deshalb werden sie oft heimlich vergossen. Es wird auch viel rückblickend geweint. In jedem Leben gibt es Begebenheiten, an die wir selbst nicht gerne denken und die wir gut verpackt, den Augen der Öffentlichkeit verborgen, mit uns herumschleppen: Verletzungen aus der Kindheit, die Zurückstoßung durch Schulkameraden, die Angst, nicht mithalten zu können und als Versager abgestempelt zu werden. Tränen sind Zeugen enttäuschter Erwartungen, schmerzlicher Verluste, von Schuld, die wir auf uns geladen haben, von Streit und Verletzungen.

Tränen zeigen – leben ohne Fassade!

Es ist eine Tatsache, dass Tränen, die offen oder im Geheimen fließen, uns helfen, ein Leben ohne Fassade zu führen. Denn selten sind wir so augenscheinlich echt wie in den Momenten, in denen uns die Tränen kommen. Menschen, die das Weinen zulassen, leben intensiver. Sie stehen zu ihrem Schmerz ebenso wie zu ihren unbeschreiblichen Glücksgefühlen. Tränen jedoch, die unverdaut, ungeweint und ignoriert in unserer Seelenwüste vertrocknet sind, liegen uns im Magen, bereiten Kopfschmerzen oder verursachen eine gedrückte Lebensstimmung. Wer seine Tränen leugnet, tut sich nichts Gutes. Wer kann die Heilkraft eines mitfühlenden Gegenübers ermessen, dem meine Tränen nicht peinlich sind, bei dem ich mich «ausweinen» kann? Wer auf ein Klima trifft, das es erlaubt, die Masken der starken Frau und des unbesiegbaren Mannes zur Seite zu legen, tut seiner Gesundheit einen unschätzbaren Dienst. Wer die Formulierung wagt: «Ich kann nicht mehr … mir ist zum Weinen zu-mute», ist auf gutem Weg.

Unkontrollierte Tränenbäche

Wer allerdings unwillentlich immer wieder von Tränenüberwältigt wird, sich nicht gegen herabstürzende Tränenbäche wehren kann, sich ausgeliefert fühlt, sollte sich nicht scheuen, professionelle Hilfe zu suchen. Vielleicht steckt hinter den vordergründigen Tränen eine unbehandelte Wunde. Dabei wären nicht die Tränen das Problem. Es ist das Gefühl der eigenen Ohnmacht.

Vorurteile abbauen

Prinzipiell jedoch sollten wir dazu beitragen, die Vorurteile der Gesellschaft gegenüber dem Weinen abzubauen. Tränen sind eine natürliche menschliche Reaktion! Übrigens: Auch Indianer kennen den Schmerz. Jeder hat das Recht, seine Gefühle zu äußern – auch in Form von Tränen. «Aufgelöst und gestillt wird durch die Tränen der Schmerz.»

Tränen können klären, läutern, entkrampfen, lösen und verhärteten sowie erkalteten Herzen einen Heilungsimpuls geben.

Günther Maurer

Gesundheitsberater, Führungskraft

Leben & Gesundheit Ausgabe 3/2016