Priorität: Ganzheitlichkeit

Den „Reset-Knopf“ drücken

Letzte Woche unterhielt ich mich mit einem Mann, der mit einem Freund seit vielen Jahren jeden Sommer auf die Lofoten reist, um dort zu wandern. In ihren schweren Rucksäcken befindet sich alles, was sie für einen 200 bis 300 km langen Fußmarsch zum Überleben in der Wildnis brauchen. Sie lassen sich von einem Postbus an das Ende von Nirgendwo fahren und laufen los. Drei Wochen Natur, drei Wochen Einsamkeit, drei Wochen auf das Wesentliche reduziert. Er nannte das seinen «Reset-Knopf» drücken.

Prioritäten überdenken

Man könnte es auch als «Prioritäten überdenken» bezeichnen. Prioritäten haben mit Rangfolge, Stellenwert, Bedeutung und Vorrangigkeit zu tun. Wer sie setzt, sortiert Dinge nach Wichtigkeit oder Dringlichkeit und richtet sein Leben und Handeln danach aus. Somit sind Prioritäten eine wertvolle Entscheidungshilfe. Sie können sich im Leben allmählich, manchmal auch ganz plötzlich durch Ereignisse ändern, die alles auf den Kopf stellen.

„Priorität: Ganzheitlichkeit“,

was ist das für ein Sprachpaar? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Einerseits Wichtigkeit und Dringlichkeit festlegen und gleichzeitig «ganzheitlich», «alles berücksichtigend», «allumfassend» sein? Wie viele Dimensionen hat die Ganzheitlichkeit? Antoine de Saint-Exupéry schrieb: «Vollendung entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.»

Wer kennt das nicht: einen wackelnden Tisch auf einem Dielenboden in einem alten Bauernhaus. Die Tischbeine sind von einem Tischler gleich lang gesägt und verarbeitet worden. Die Ursache für das Wackeln liegt nicht am Tisch, sondern am Boden, der im Laufe der Jahre durch Abnutzung oder ein Verziehen des Holzes uneben geworden ist. Auf dem gleichen Untergrund verhält es sich ganz anders mit einem dreibeinigen Hocker. Wo immer ich diesen im Raum platziere, er wird stets fest und sicher stehen. Nimmt man ein Bein weg, kippt er um, fügt man ein Bein hinzu, wird er wackeln wie der Tisch. Ein dreibeiniger Hocker ist so ein vollendeter Gegenstand, wie ihn Saint-Exupéry beschreibt. Wie viele Beine hat der Hocker «Ganzheitlichkeit» im Kontext von NewstartPlus auf dem bewegten Boden des Lebens?

Der dreibeinige Hocker- Bein 1

Unsere Körper bestehen aus Zellen, die wiederum in Unterbestandteile wie etwa Aminosäuren oder Fettsäuren zerlegt werden können. Diese Zellen gehorchen den Gesetzen der Biologie, Physik, Chemie und Biochemie. Unsere Körperzellen haben Bedürfnisse. Sie brauchen Dinge wie Sauerstoff, Mineralien, Energie. Haben die Zellen alles, was sie benötigen, geht es ihnen gut. Fehlt ihnen etwas, nehmen wir dieses Bedürfnis wahr, weil wir beispielsweise durstig, hungrig oder müde werden. Das ist ein Bein des Hockers.

Der dreibeinige Hocker- Bein 2

Wir sind aber mehr als die Summe unserer Zellen. Wir denken, fühlen und treffen Entscheidungen. Das ist das zweite Bein des Hockers. Wir können heute die Gehirnströme und die elektrische Aktivität bei diesen Beschäftigungen messen oder mittels funktioneller Bildgebung darstellen. Interessanterweise haben unsere Gedanken einen Einfluss auf unsere Zellen. Bei Freude oder Wut verändert sich der Herzschlag oder die Größe der Pupillen. Angst und Stress führen zur Ausschüttung von Hormonen, die man im Blut nachweisen kann. Es existiert also eine Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Hockerbeinen. Auch unsere Gedanken und Gefühle haben Bedürfnisse. Wir sehnen uns nach Annahme, nach Liebe, nach Wertschätzung, nach einer Aufgabe. Wenn diese Bedürfnisse gestillt werden, fühlen wir uns gut. Was passiert, wenn diese Bedürfnisse nicht gestillt werden? Manchmal können wir das, was uns fehlt, ganz klar benennen, manchmal verspüren wir eine Leere oder Niedergeschlagenheit, manchmal äußert sich der Mangel aber auch nur getarnt als Atemnot, Brust- oder Bauchschmerz oder als sonstige unspezifische Symptome. Für diese Menschen kann das sehr belastend sein, da sie überzeugt sind, an einer schweren Lungen-, Herz- oder Darmerkrankung zu leiden. Es frustriert sie, dass die Ärzte nichts Krankhaftes an den jeweiligen Organen finden können.

Der dreibeinige Hocker- Bein 3

Darüber hinaus erleben wir alle im Leben immer wieder Dinge, die wir weder mit Physik oder Chemie noch mit unseren Gedanken oder Gefühlen oder mit dem Verstand erklären können. Es sind Situationen, wo uns etwas Gutes widerfährt, wo «unmögliche Zufälle» passieren; Momente, in denen wir staunend anerkennen, dass es noch etwas Übergeordnetes außerhalb von uns geben muss, eine weitere Dimension. Die einen nennen es Universum, andere Glück, Zufall, Karma, Schicksal, etwas Höheres. Jede Kultur hat dafür eine andere Erklärung und diesem Phänomen Götternamen gegeben. Im monotheistischen Umfeld ist diese Dimension der Schöpfergott. Hier kommen Glaube, Hoffnung und Liebe mit ins Spiel. Diese Anerkennung von etwas Höherem ist das dritte Hockerbein.

Um in der Analogie mit den Hockerbeinen zu bleiben: Beeinflusst die Anerkennung dieser weiteren Dimension unsere Zellen und unser Denken ebenfalls? Wenn ja, wie wirkt es sich aus, wenn sie positiv besetzt ist oder wenn ihr mit Gleichgültigkeit oder gar Angst begegnet wird? Schon das stellt ja bereits einen Einfluss auf unser Denken dar.

MRT-Untersuchungen zeigen, dass beispielsweise Meditation nicht nur die Gehirnaktivität verändert (1), sondern auch zu einer messbaren Vergrößerung des orbitofrontalen Cortex und des Hippocampus führen kann (2). Das heißt, dass das dritte Hockerbein sowohl auf elektrischer als auch auf struktureller Ebene mein Gehirn und mein Denken beeinflusst, denn dem orbitofrontalen Cortex wird unter anderem auch eine Rolle bei der Entscheidungsfindung zugesprochen. Da bekommt die Aussage, dass wir durch «Anschauen verändert werden» (3) eine ganz neue Dynamik. Wir werden wirklich zu dem, was wir betrachten!

Es sind 3: Körper, Seele und Geist

Ich habe vorhin gefragt, wie viele Beine der Hocker «Ganzheitlichkeit» im Zusammenhang von NewstartPlus hat? Wie beim Hocker in der Küche gehören diese drei Bestandteile – wir können sie auch Körper, Seele und Geist nennen – untrennbar zusammen. Sie brauchen und bedingen sich gegenseitig. Entfernen wir ein Bein, fällt der Hocker um. Wenn wir mit diesem Wissen jetzt den «Reset-Knopf» drücken bzw. unsere Prioritäten neu überdenken, bekommt der Titel «Priorität: Ganzheitlichkeit» plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Das, was unseren Zellen guttut, tut auch unseren Gedanken, Gefühlen, Entscheidungen und unserem Geist gut. Das gilt auch umgekehrt.

NEWSTARTplus-ganzheitlich

Ein Bestandteil von NewstartPlus ist Vertrauen. Schon Christus sagte: «Ich bin die Auferstehung, und ich bin das Leben. Wer mir vertraut, der wird leben, selbst wenn er stirbt.» (4) Das schenkt Optimismus! Wie sehen Beziehungen aus, die von Optimismus und Integrität geprägt sind? Vertrauen, Optimismus, Integrität und gute Beziehungen verleihen Sicherheit. Sicherheit schenkt die Freiheit, gute Prioritäten zu setzen, das richtige Maß zu finden, und den Mut, notfalls auch gegen den Strom zu schwimmen. Ich darf genießen, was die Erde an leckeren Lebensmitteln bereithält, ich freue mich über Ruhepausen, erlebe Erholung bei Bewegung an der frischen Luft und lasse meine Haut von der Sonne wärmen. Nur eines bedauere ich. Warum bin ich dem Lofoten-Wanderer erst letzte Woche über den Weg gelaufen? Er macht das ja schon seit über 30 Jahren. Dann hätte ich diese Überlegungen vielleicht schon viel früher angestellt und hätte früher damit begonnen, sie immer mehr zu leben. Ein Sprichwort sagt: «Der beste Zeitpunkt, einen Baum zu pflanzen, war vor 20 Jahren. Der zweitbeste ist heute!» Welchen Baum wollen Sie heute pflanzen?

Dr. med. Marko Klemenz

Facharzt für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin, Diabetologie und Suchtmedizin

Leben & Gesundheit Ausgabe 3/2017